Steinschlag (German Edition) by Zopfi Emil

Steinschlag (German Edition) by Zopfi Emil

Autor:Zopfi, Emil [Zopfi, Emil]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783857919510
Herausgeber: Limmat Verlag
veröffentlicht: 2013-08-27T00:00:00+00:00


27

Andrea fuhr die Alpstrasse hinauf, frische Kuhfladen zischten unter den Reifen, der Kot bespritzte den Wagen. Sie parkte auf dem Sattel, packte ein Seil und Klettergerät in den Rucksack, zwei Äpfel und ein paar Getreideriegel. Den Weg fand sie ohne Licht. Die Hütte stand in einer Mulde, versteckt zwischen zwei grossen Felsblöcken, an denen sie schon als Kind herumgekraxelt war. Mutter hatte am Boden gestanden, andauernd zur Vorsicht gemahnt und sie aufgefangen, wenn ihre Kraft nachliess und sie stürzte. Aber sie war selten gestürzt, hatte schon früh einen Instinkt fürs Klettern entwickelt.

Der Schlüssel hing nicht im Versteck, die Tür war verriegelt. Andrea prüfte die Fensterläden. Die Hütte war niedrig, eine alte Militärbaracke, aus Tannenbrettern und Balken gefügt. Bei einem Fenster konnte sie einen Zweig durch einen Spalt stecken, innen den Riegel anheben und einen Flügel aufstossen. Sie kletterte über den Sims in den Schlafraum und machte Licht. Die Hütte bezog elektrischen Strom aus Batterien, die von einer Sonnenzelle aufgeladen wurden. Ansonsten war sie vergammelt, der Boden schmutzig, die Hüttenschuhe im Gestell lagen durcheinander, auf dem Tisch in der Küche klebten Brosamen auf eingetrockneter Konfitüre. Sie wurde selten benutzt, seit es die Alpstrasse gab, meist nur noch von Gruppen der Kletterschule, die ihren Teilnehmern etwas Hüttenromantik bieten wollte.

Andrea fand Teebeutel und Zucker, machte Feuer, zündete eine Kerze an, um die Batterien zu schonen. In ihrem Licht begann sie die alten Hüttenbücher durchzublättern. Fand den Eintrag von Daniel Meyer und seinem Kollegen, die vor vielen Jahren die klassische Westwand an der Sila geklettert waren, als sie noch nicht mit neuen Haken saniert und noch eine ausserordentliche Tour war. Jemand hatte einen Vermerk hingesetzt: Rettungsaktion!

Sie blätterte weiter zurück bis in die Zeit jenes Sommers vor dem Jom-Kippur-Krieg, fand jedoch den Eintrag nicht, den sie suchte. Blätterte hin und her in dem zerschlissenen Buch, das voller Namen und Routenskizzen, voll weiser und dummer Sprüche war, Namen mit Kreuzen dahinter, Schicksale, Geschichten, die niemand mehr kannte. Schliesslich bemerkte sie, dass eine Seite fehlte. Jemand musste ein Doppelblatt herausgelöst haben, denn auf der linken Seite begann ein Eintrag, auf der rechten setzte sich jedoch ein späterer in einer anderen Handschrift fort. Dazwischen klaffte eine Lücke von zwei oder drei Wochen. Es fehlte der Juli jenes Sommers, als sich Kurt Amstad und Claudia Lévi hier kennen gelernt hatten. Der Bergführer und die kletterbegeisterte junge Frau aus reichem Haus. Andrea stellte sich vor, wie sie sich nachts unter Wolldecken gestreichelt und geküsst hatten, während die andern schliefen oder stumm lauschten. Es war eine Zeit gewesen, als man noch unbeschwert Liebe machte, ohne Kondom und Angst vor Aids. Claudia hatte ihre Pillen vergessen oder gar keine genommen, hatte sich in ihrer Verliebtheit von dem erfahrenen Mann verführen lassen.

Wenn Amstad die Seite später entfernt hatte, vielleicht sogar erst vor kurzem, dann hatte er jede Spur der alten Geschichte beseitigen wollen. Was hatte die fehlende Seite im Hüttenbuch mit Claudias Tod zu tun, fragte sie sich. Einzig, dass Amstad nicht die ganze Wahrheit gesagt hatte und vielleicht noch anderes versteckte als seinen Seitensprung.



Download



Haftungsausschluss:
Diese Site speichert keine Dateien auf ihrem Server. Wir indizieren und verlinken nur                                                  Inhalte von anderen Websites zur Verfügung gestellt. Wenden Sie sich an die Inhaltsanbieter, um etwaige urheberrechtlich geschützte Inhalte zu entfernen, und senden Sie uns eine E-Mail. Wir werden die entsprechenden Links oder Inhalte umgehend entfernen.